Barbara Serloth
Nach der Shoah. Politik und Antisemitismus in Österreich nach 1945, mandelbaum verlag, Wien 2019
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Ein Überblick
Ein paar einleitende Worte
Im Zentrum des Buches Nach der Shoah. Politik und Antisemitismus in Österreich nach 1945 steht zum einen die Frage, wie sich der – trotz aller gegenteiligen Beteuerungen – in der Wertehaltung tief verwurzelte Antisemitismus in der „beobachteten Demokratie“ der österreichischen Nachkriegsjahre (bis 1955) auf die Restitutions- und Gleichberechtigungsforderungen der (ehemaligen) österreichischen Juden und Jüdinnen auswirkte. Zum anderen wird beleuchtet, wie die damalige politische Elite mit dem Anspruch der Zwangs-Emigranten umging, ein selbstverständlicher Teil der österreichischen Wir-Gemeinschaft zu sein.
Die erfolgte neuerliche Aussonderung der Juden und Jüdinnen aus der österreichischen Wir-Gemeinschaft stand im kausalen Zusammenhang mit der Verharmlosung des Nationalsozialismus sowie der österreichischen Mitschuld am NS-Terrorregime und seinen Untaten als Grundlage des Opfermythos. Anhand des politischen Diskurses und der positiven sowie negativen Narrative konnten die Vorurteile und antisemitischen Stereotypen mitsamt deren Auswirkungen aufgezeigt werden.
Der hier wiedergegebene Überblick kann selbstverständlich die Inhalte der Abhandlung nur sehr skizzenhaft einfangen. Die Zusammenfassung folgt nicht strikt der chronologischen Reihenfolge des Buches, jedoch wird unter Angabe der jeweiligen Seiten auf diverse Stellen Bezug genommen.
Derzeit ist das Buch nur auf Deutsch verfügbar.
Das Kontinuitätsnarrativ
Österreich im Mai 1945: Die berühmte „Stunde Null“ war ein politisch brillantes Narrativ vom Neubeginn des Staates Österreich und seiner Gesellschaft. Sie war die Erzählung von einem vom Schicksal gebeutelten Land und seinen Bewohnern, die sich nach der Überwindung der Schreckensherrschaft durch die Nationalsozialisten unter tristen Bedingungen wiederaufrichteten und wie zuvor friedlich in einer Demokratie zusammenlebten. Während die Beschreibung der desaströsen Bedingungen im Jahre 1945 und in den Jahren danach sowie in den Zeiten des Wiederaufbaus den Tatsachen entsprach, war ein Großteil der Erzählung mehr oder weniger fiktiv. Demgemäß ist die Geschichte um die „Stunde Null“ als Narrativ des Opfermythos zu sehen. Beide bedingten einander. Auf der Grundlage dieser beiden Narrative konnte sich Österreich als Einheit von der Auseinandersetzung mit der eigenen Schuld und der Teilhabe am Nationalsozialismus und der Shoah befreien. Der Nationalsozialismus und seine Untaten wurden kurzerhand exterritorialisiert und als Gesamtpaket der Bundesrepublik Deutschland übergeben.
Die österreichische Wir-Gemeinschaft wurde nach dem Zusammenbruch des Deutschen Reichs im Jahre 1945 nicht neu gegründet. Man baute auf Kontinuität – im Allgemeinen und im Besonderen in der Politik. Die Kontinuitätserzählungen ergänzten sich nicht nur, sie bedingten vielmehr einander. Durch das Narrativ der demokratischen Kontinuität, der Erzählung, dass die österreichische Demokratie nur durch die Okkupation durch das als fremde und feindliche Macht dargestellte Hitler-Deutschland gewaltsam unterbrochen worden war, konnten der Opfermythos gestärkt und die Unschuldsthese abgesichert werden. Die demokratische Kontinuität wurde ihrerseits nicht nur durch den Wiederaufbau der alten Strukturen, der Verfassung, der Normen sowie einer sehr ähnlichen Politikarchitektur signalisiert, sondern auch durch personelle Kontinuitäten im politischen Bereich verstärkt. Schon in der ersten Republik waren die Gründungsväter zentrale politische Figuren, wobei die österreichische Geschichte zwischen 1934 und 1938 verwischt wurde. Obgleich diese Narrative im Kern einen Wahrheitsgehalt aufweisen, wurden sie mit einem wesentlichen fiktiven Teil versehen, der zu ihrer Relativierung hätte führen müssen. Die Ausblendung des Austrofaschismus beruht auf unterschiedlich zu gewichtenden Gründen. Einerseits hätte seine Erwähnung das Kontinuitätsnarrativ infrage gestellt, andererseits war man bedacht, die politischen Gräben des Bürgerkrieges zuzuschütten. Das politische Ziel war es, die erzählte Einigkeit, die österreichische „Schicksalsgemeinschaft“, nicht mit Aufarbeitungen der geschichtlichen Realität zu entzaubern.
Die Verharmlosung von Zwangsemigration und Flucht
Es liegt auf der Hand, dass diese Idyllisierung der österreichischen Gesellschaft und Geschichte zwangsläufig zu Konsequenzen in der Haltung gegenüber Flüchtlingen im Allgemeinen und jüdischen Zwang-Emigrierten im Besonderen führen musste. Anknüpfend an die Bilder der NS-Propaganda von den „Davongelaufenen“, die im Ausland ein schönes, gesichertes Leben genossen, wurden Flüchtlinge zu Emigranten – zu einer Gruppe, der man absprach, sich im politischen Diskurs einbringen zu dürfen, der den Umgang mit dem Nationalsozialismus, den Nationalsozialisten, den NS-Mitläuferinnen und Günstlingen sowie deren Taten betraf. So erklärte z. B. der Ex-KZ-Häftling und mächtige ÖVP-Politiker Alfons Gorbach[1]: „Es ist überhaupt etwas Eigenes um diese Emigranten. Kaum, dass die Wogen des Ozeans sich kräuselten, nahmen sie Zuflucht in das rettende Ausland. Vom sicheren Hafen, vom sicheren Ufer aus riefen sie dem auf den Wellen treibenden österreichischen Schifflein und den bereits schiffbrüchig gewordenen Matrosen zu, was sie schlecht gemacht hätten und wie sie hätten schwimmen sollen, um die Situation letzten Endes noch zu retten.“[2] Gorbach ging noch einen Schritt weiter und kritisierte, dass die Emigranten versucht hatten, Österreichs gutem Ruf zu schaden. „Ich will das Verdienst nicht bestreiten, das Emigranten im Ausland erworben haben, aber es gab auch eine Reihe von Emigranten, die dem österreichischen Vaterland per Saldo nicht genutzt haben, sondern mit ihrer gewissen Propaganda über die Zeit von 1934 bis 1938 dem österreichischen Volk sehr geschadet haben und jetzt noch weiter schaden!“[3]
Die Fluchtursachen zu marginalisieren, war im Nachkriegsösterreich eine gängige Praxis, um das Opfernarrativ nicht zu gefährden. Im Jahre 1946 erklärte der damalige Bundeskanzler und ÖVP-Parteiobmann Leopold Figl, der selbst die Torturen der NS-Jörgen in verschiedenen Konzentrationslagern erdulden musste[4], den Vernichtungsantisemitismus, die Arisierung sowie die Entrechtung der Juden und Jüdinnen völlig ausblendend: „Wir heißen alle Österreicher wieder bei uns willkommen […] – aber als Österreicher, nicht als Juden. Wir müssen alle gleichermaßen an dem neuen Österreich teilhaben.“ Der Rechtsaußen-VdU-Politiker Fritz Stüber[5] vermengte gleich zwei Negativ-Narrative und erklärte im Jahre 1955, „dass Österreich beispielsweise für Emigranten, die die österreichische Staatsbürgerschaft bei nächstbester Gelegenheit abgestreift haben wie eine Schlangenhaut, 800 Millionen Schilling zur Verfügung stellen sollte“.[6] Die Botschaft liegt nicht nur in der Ausgrenzung der jüdischen Zwangsemigranten und Flüchtlinge aus der österreichischen Wir-Gemeinschaft, sondern auch in den unterstellten unberechtigten finanziellen Forderungen der „vaterlandslosen“ Menschen. Indem dieser Gruppe von ehemaligen österreichischen Staatsbürgern die Verbundenheit mit ihrer Heimat durch die Annahme einer neuen Staatsbürgerschaft abgesprochen wird, ermöglichen es die herrschenden negativen Narrative, diese Nichtverbundenheit zum Kern für die Verweigerung der Abgeltung finanzieller Ansprüche zu stilisieren.
Die Verharmlosung der Flucht zur Emigration inkludierte eine ganze Reihe an politischen, wirtschaftlichen und sozialen Ausblendungsmöglichkeiten und -szenarien. Allen voran sind hier „Arisierung“ und völlige Entrechtung der jüdischen Bevölkerung zu nennen. Es wäre eine sträfliche Verzerrung der Politik der Nachkriegsjahre, würde man behaupten, dass die Restitutionspolitik nicht auch von dem ehrlichen Bestreben bestimmt war, geschehenes Unrecht wieder auszugleichen sowie den Menschen ihr Hab und Gut zurückzuerstatten. Genauso sträflich verzerrend wäre es jedoch, nicht auch darauf hinzuweisen, dass die Grundstimmung in Österreich nicht für eine ehrliche Restitutionspolitik sprach. Diese allgemeine Einstellung wurde von den politischen Eliten mit entsprechenden Lenkungsmaßnahmen gestärkt bzw. mit geeigneten Normsetzungen abgesichert. Zentral dabei ist, dass den Restitutionsbegünstigten (das heißt, den ehemals Arisierenden und jenen, die infolgedessen finanzielle oder vermögensrechtliche Mehrwerte verzeichnen konnten) vermittelt wurde, „die Politik“ sei bemüht, Härten bei einer etwaigen Restitution abzufedern. Damit verbunden war zwangsläufig die realpolitische Nicht-Ächtung der „Arisierung“ und deren Verharmlosung. Gleichzeitig wurden der Gruppe der Arisierungsbetroffenen kaum Hilfestellungen angeboten. Abgerundet wurde die Transformation der Arisierungsbeute in den demokratischen Ist-Zustand im Nachkriegsösterreich durch die jahrelange politische Verweigerung.
Die Skepsis der Juden und Jüdinnen gegenüber der österreichischen Politik
In den Gesprächen mit ZeitzeugInnen der ersten sowie der zweiten Generation, die entweder als Juden und Jüdinnen dem NS-Vernichtungsantisemitismus direkt ausgesetzt waren oder dessen Auswirkungen zeitnah erlebten, zeigte sich eine resignative und nüchterne Einstellung der Betroffenen gegenüber der österreichischen Politik in den Nachkriegsjahren, aber auch noch später. Als einer der Gründe für diese Einstellung gilt die deutliche Hinwendung der Politik zu einer Täter- und Täterinnenverharmlosung. Nach intensiver Abwägung kann von einer politischen Bevorzugung dieser Verharmlosungstendenz gesprochen werden, wie sowohl die Entnazifizierungspolitik insgesamt als auch die Diskussion um den Härtefonds für die mit Restitutionsforderungen konfrontierten Arisierungsbegünstigten zeigen. Bei der Auslotung der Machtbalance wurde jene Gruppe, die sich durch eine moralisch inakzeptable Vorgangsweise sowie durch Ausnützung der Entrechtung und Vertreibung der verfolgten Gruppe der Juden und Jüdinnen bereicherte, zwar nicht immer, aber in einem durchaus bemerkenswerten Umfang politisch und in Konsequenz rechtlich bevorzugt. Somit konnten die durch Arisierung erzielten Bereicherungen in einem inakzeptablen Ausmaß abgesichert werden.
In der langen Nachkriegszeit verfestigten sich in Österreich die antisemitischen Aussonderungsnarrative und die Weitertradierung der damit verbundenen antisemitischen Stereotype innerhalb der demokratischen Strukturen. Erst in den 1980er Jahren wurde mit dem Aufbrechen des Opfermythos mit der Aufarbeitung der NS- Vergangenheit und der Restitutionsfrage begonnen.
Die Restitutionsproblematik
Mit der Nichtaufarbeitung der Schuldfrage waren zweifelsfrei grundlegende politische Entscheidungen verbunden, die in der vorliegenden Studie vor allem anhand der Restitutionsproblematik beleuchtet wurden. Die politischen Entscheidungen sind als tiefgreifend zu bezeichnen, da sie die Weichen für den Wiederaufbau der demokratischen Gesellschaft in der Republik Österreich stellten. Aufgrund der Entscheidung, Österreich als Opfer des Nationalsozialismus darzustellen und die nationalsozialistischen sowie radikal-rassistischen Täter und Täterinnen zu tabuisieren, musste sich zwangsläufig die Weitertradierung der negativen Ismen und Stereotype ergeben.
Für die österreichische politische Nachkriegselite war die Konstituierung des neuen Wir-Gefühls keine Frage der Neuausrichtung der Gesellschaft. Intellektuelle Überlegungen hinsichtlich der Möglichkeit ihrer Neuformierung wurden nicht angestellt. Dies spiegelte sich auch in der kritiklosen Übernahme der Transformation der politisch und/oder rassistisch Verfolgten des Nationalsozialismus von Flüchtlingen zu Emigranten wider. Verwendet wurden dabei jene Narrative, die bereits in der nationalsozialistischen Propaganda über die „Emigranten“ vorhanden waren. Die Gruppe der Geflohenen wurde in den politischen Narrativen zumeist auch nach 1945 aus der Wir-Gemeinschaft der „echten“ Österreicherinnen und Österreicher entfernt. Damit ging nicht immer, aber auffallend häufig die Delegitimation ihrer politischen Wortmeldungen und/oder rechtlichen Ansprüche einher. Diese neuerliche Eliminierung musste zwangsläufig die politische Stärkung der Arisierungsbegünstigten zum Ergebnis haben.
Die Aufarbeitung der politischen Diskurse auf parlamentarischer und ministerieller Ebene zeigte, dass die Bestrebungen, ehemalige Nationalsozialisten von der Unbill des Nationalsozialistengesetzes und damit vor Konsequenzen sowie Sanktionen zu verschonen, mit dem vorgetragenen Willen zur Entnazifizierung Österreichs inkompatibel waren. Gleiches lässt sich dahingehend beobachten, dass man bemüht war, die ehemaligen Nationalsozialisten so schnell wie möglich in die Gesellschaft der ehrenwerten Bürger und Bürgerinnen mit allen dazugehörigen politischen Rechten zu integrieren. Hinzu kam, dass die beiden Großparteien das Wählerpotential der rund 500.000 registrierten „Ehemaligen“ machtstrategisch nicht unberücksichtigt lassen konnten und dies auch in keiner Weise wollten. Im Endeffekt musste dies für die „Ehemaligen“ zwangsläufig mit einer komfortablen Stellung als Umworbene einhergehen, die entsprechende Forderungen stellen konnten. Sie waren nicht nur die Begehrten, sondern durch ihren Status auch imstande, in das politische System als Akteure einzudringen. Gleichzeitig war es ihnen möglich, nicht nur innerhalb der Normsetzung, sondern auch bei der Rechtsprechung ihre aktiven Rollen zu behalten, was sich durch die gescheiterte Entnazifizierung der Justiz nachhaltig ergab.[7] Schon vor dem Ende der Entnazifizierungsphase war es einer Reihe von ehemaligen, zum Teil hochrangigen Nationalsozialisten gelungen, sich wieder als Akteure zu etablieren. Damit war im politischen, administrativen, juristischen und gesellschaftlichen System eine Art Schneeballeffekt wahrnehmbar, wodurch in Konsequenz viele „Ehemalige“ müheloser und vor allem sanktionsfreier ihre Karrieren fortsetzen konnten. Dass der Arbeitskräftemangel, vor allem im akademischen Bereich, dazu beitrug, ist unbestritten. Allerdings hätte es sich in dieser Situation angeboten, die zwangsemigrierten jüdischen Ärzte und Ärztinnen, Juristen und Wissenschaftlerinnen zur Remigration einzuladen. Die diesbezüglichen Wortmeldungen sind eindeutig: „So erklärte Gorbach: ‚Österreich besitzt keinen Überfluss an Menschen und benötigt jeden Staatbürger, ganz besonders aber seine Intelligenz, dringend.‘[8] Womit er dieselbe Einstellung zum Problem der Arbeitskräfteknappheit vor allem in akademischen Berufen, die Karl Renner dokumentierte, als dieser im Oktober 1945 erklärte: „Wir haben nicht genug Ärzte. Die jüdischen Ärzte sind weg, die Naziärzte sind außer Dienst gestellt.“[9] Schon damals sah Renner die Lösung des Problems in der Entschärfung des Entnazifizierungsgesetzes.
ede Persilschein-Aktion produzierte reingewaschene „Ehemalige“, die unbehelligt agieren konnten, sobald sie ihre ideologischen Grundeinstellungen den demokratischen, nachnazistischen Rahmenbedingungen anpassten. Nun kann davon ausgegangen werden, dass es unter den „Ehemaligen“ sicherlich eine Menge weibliche und männliche Opportunisten gab, für die eine pragmatische Lösung Sinn ergab. Jedoch ist das Vorgehen der politischen Verantwortlichen nicht von diesem Standpunkt aus zu betrachten – was die Übernahme des „Kleine Nazis“-Narrativs bedeuten würde –, sondern von der Fragestellung aus, wie gegen die rassistische und antisemitische Sozialisierung vorgegangen wurde. Hier muss die Antwort schlicht „gar nicht“ lauten. Die politische Elite wollte die Dinge auf sich beruhen lassen und so geschah es dann auch. Diese Attitüde bewirkte eine Tradierung der Stereotype, wenn auch in einer abgeschwächten Form.
Restitution und die österreichische Ping-Pong-Blockadepolitik
Die Haltung der Gründungsväter der Zweiten Republik in der Restitutionsproblematik manifestierte sich bereits in der Zeit der provisorischen Regierung Renner. Die Vertreter der politischen Parteien waren zwar mehr als geneigt, das Eigentum ihrer Partei wieder zurückzuerhalten, jedoch äußerst distanziert gegenüber einer ehrlichen, die Opfer der Arisierungen ins Zentrum der Bemühung stellenden Politik. Vielmehr wurden die Ansprüche der Juden und Jüdinnen für die Legitimierung der eigenen Interessen instrumentalisiert.
Bei Karl Renner mangelte es diesbezüglich nicht an Deutlichkeit, als er die Forderung nach Rückgabe des ehemaligen Vermögens der Sozialdemokratie bereits in der fünften Sitzung der provisorischen Regierung vertrat.[10] Im Zusammenhang mit der Diskussion um den Gesetzentwurf betreffend die Erfassung arisierter und anderer im Zusammenhang mit der nationalsozialistischen Machtübernahme entzogenen Vermögenschaften forderte er nicht nur dringend die Berücksichtigung der Interessen der SPÖ, sondern verband diese Forderung sogar mit einer Rücktrittsdrohung und einem argumentativen Seitenverweis auf die jüdischen Restitutionsansprüche. So erklärte Renner: „Ich nehme es als selbstverständlich an, dass ein solches Gesetz gemacht werden muss. Es wäre doch ganz unverständlich, dass man jeden kleinen jüdischen Kaufmann oder Hausierer für seinen Verlust entschädigt, dass man aber einer ganzen Klasse und einer Bewegung, der 47 % der Bevölkerung angehört haben, straflos und ohne Ersatz das Ergebnis ihrer emsigen Sammeltätigkeit und ihrer Organisationsarbeit glatt wegnehmen kann, ohne dass das Gesetz eine Remedur dagegen schafft. Ich möchte das aber nicht mit diesem Gesetze verbinden, kündige jedoch an, dass ich mein Verbleiben als Staatskanzler von der Erlassung eines solchen Gesetzes absolut abhängig machen werde. Ich erkläre hiermit, dass ich nicht imstande wäre, an der Weiterführung der Geschäfte des Staates teilzunehmen, wenn das Unrecht vom Jahre 1934 nicht gutgemacht würde. Ich bitte die Herren, nicht zu vergessen, dass ich auch eine persönliche Reputation zu wahren habe und dass meine Geltung im ganzen Staate und zu einem wesentlichen Teile in der Bevölkerung davon abhängt, dass dieses Unrecht gutgemacht wird. Ich könnte die Geschäfte nicht mit dem Makel weiterführen, dass ich wohl die Rechte von 7 % der Bevölkerung so hoch und heilig gehalten habe, dass ich ein Sondergesetz gemacht habe, dass ich aber die Rechte des anderen, bei weitem größeren Teiles nicht gewahrt habe.“[11] Nach dem Einwand von Staatssekretär Johann Koplenig (KPÖ), dass es noch andere Arbeiterorganisationen außer den sozialdemokratischen gebe, ging Renner einen Schritt weiter und führte aus: „Meine Stellung als Staatskanzler beruht im Wesentlichen darauf, dass alle Schichten der österreichischen Bevölkerung ein gewisses Vertrauen in meine Objektivität und Gerechtigkeit haben. In dem Augenblick jedoch, in dem ein so wesentlicher Teil der künftigen Demokratie an dieser Gerechtigkeit zweifeln würde, wäre auch meine Stellung erschüttert und Sie hätten einen Staatskanzler, an dessen Objektivität man nicht mehr allgemein glauben würde. Ich will nicht deshalb Staatskanzler sein, weil vielleicht Russland oder eine andere Macht es wünscht, sondern weil Österreich zu mir Vertrauen hat.“[12] Die Argumentationslinie bestand zum einen im Herausstreichen der jüdischen Ansprüche und zum anderen in dem Hinweis, dass der Vorwurf, für „7 % der Bevölkerung“ ein Sondergesetz gemacht zu haben, dem Gerechtigkeitsempfinden der Österreicherinnen und Österreicher zuwiderlaufen würde. Der Einwand der Notwendigkeit der Gleichbehandlung aller Geschädigten ist allerdings illegitim, da diese zwangsläufig kausal mit der Harmonisierung aller Opfergruppen verbunden sein musste und auf diese Weise eine Ungleichbehandlung bedeutete. Zudem stellt sich generell die Frage, ob die politischen Parteien Gefahr liefen, ihr Vermögen nicht wieder zu erhalten. Dem widersprechen die gesetzten taktischen Maßnahmen der damals am Normfindungsprozess beteiligten drei demokratischen Parteien.
Es lässt sich demnach annehmen, dass Karl Renner sehr bewusst die jüdischen Ansprüche in den Vordergrund rückte und diesen eine „Sonderbehandlung“ unterstellte, um den eigenen Interessen stärkere Legitimität zu verleihen. Hinzu kommt sein Verweis auf die Wünsche des Auslandes, womit die Ansprüche der Juden und Jüdinnen, ihre geraubten Vermögen rückerstattet oder ersetzt zu bekommen, nochmals vorsorglich als eine Angelegenheit gebrandmarkt wurde, die Österreich aufoktroyiert werden sollte. Ebenfalls konnte man die Macht des „Weltjudentums“ hiermit assoziieren. Folglich bediente sich Renner eindeutig antisemitischer Bilder: Bilder von jüdischen Privilegien und vom Weltjudentum, die er den 47 % der wahlberechtigten Bevölkerung, die sozialdemokratisch gewählt hatten, gegenüberstellte. Dass es gerade in der Sozialdemokratie zu einer nicht unbeachtlichen Schnittmenge zwischen Sozialdemokraten und Sozialdemokratinnen sowie Juden und Jüdinnen kam, musste bei dieser Argumentationslinie ausgeblendet werden, denn das hätte erstens die dezidierte Aussonderung der Juden und Jüdinnen aus der Wir-Gruppe der Sozialdemokratie und zweitens die Betonung der drohenden Benachteiligung der „echten Österreicherinnen“ durch eine Politik-Ikone bedeutet. Es braucht nicht gesondert betont zu werden, dass dies implizit kommuniziert werden sollte, jedoch aufgrund von Kommunikationslatenz und Staatsräson verklausuliert wurde.
Diese Verweigerung der (Mit-)Schuldeinsicht wurde in der Nationalratsdebatte zum Nichtigkeitsgesetz am 15. Mai 1946 vom damaligen ÖVP-Abgeordneten Ernst Kolb mit dem berühmten Satz, dass Österreich nichts gutzumachen habe, da es nichts verbrochen habe, auf den Punkt gebracht. Kolb formulierte nicht nur die Ablehnung der Restitution aufgrund des Opfermythos, sondern ging noch wesentlich weiter. Er zeichnete das Bild, die Nationalsozialisten hätten die Enteignung der politischen Parteien hinter der Erzählung der Arisierung des Vermögens und Besitzes der Juden und Jüdinnen versteckt. Die Stoßrichtung der Argumentationslinie war offenkundig: Von Anbeginn galt es, jüdische Ansprüche auf Restitution zu marginalisieren und das Wort „Restitution“ vor allem mit den Ansprüchen Österreichs bzw. des österreichischen Staates, seiner Verbände und Parteien zu belegen. Kolb übte sich zuerst in semantischen Ausführungen, um danach die österreichische Sichtweise darzulegen: „[W]enn wir das Wort Wiederherstellen in die Sprache der Alliierten übertragen, dann kommen wir zu dem Begriff der Restitution, der sich im Deutschen durch Zurückstellung, Erstattung wiedergeben lässt und somit alles umfasst, was man irrtümlich als Wiedergutmachung bezeichnet hat. Es handelt sich darum, dass man das Recht wiederherstellt und dass das entzogene Eigentum rückerstattet wird. Erste Anspruchsberechtigte ist dabei die Republik Österreich selber, denn ein erheblicher Teil all des Vermögens, das in den vergangenen sieben Jahren den Eigentümer wechseln musste, gehörte dem österreichischen Staat. Man hat zur Zeit des Nationalsozialismus absichtlich viel von Arisierung gesprochen, um zu vertuschen, dass weitaus der größere Teil alles entzogenen Vermögens nicht aus rassistischen, sondern aus politischen Gründen weggenommen wurde. Hauptsächlich handelte es sich da um Österreicher, weshalb man nicht gut vorschützen konnte, man legte volksfremdes Eigentum in die Hände des Volkes, denn es wurde ja bodenständiges Eigentum von Österreichern in fremde Hände gespielt. Um das zu verdecken, erfand man das Schlagwort der Arisierung; tatsächlich handelte es sich nur bei einem Teil des entzogenen Vermögens um Arisierungen.“[13] Nach Kolb hätten also die Nationalsozialisten „das Schlagwort der Arisierung“ erfunden, um die Beschlagnahmung des Vermögens von politischen Parteien zu kaschieren. Hier treffen zwei wesentliche Narrative aufeinander: zum einen, dass Juden und Jüdinnen ohnehin nicht so viel gestohlen worden sei, und zum anderen, dass das beschlagnahmte Vermögen österreichisch gewesen sei. Letzteres bedeutete eine erneute Konstruktion der Wir- Gruppe der Österreicher und Österreicherinnen ohne Juden und Jüdinnen. Denn anderenfalls wäre es auf jeden Fall „bodenständiges Eigentum“ gewesen.
Das Krauland-Ministerium und die „Ehemaligen“ als zentrale Personen der Restitutionspolitik
Die Restitutionsagenden wurden in der ersten Bundesregierung der Zweiten Republik dem Bundesministerium für Vermögenssicherung und Wirtschaftsplanung (dem sogenannten Krauland-Ministerium nach dem ihm vorstehenden Minister) übergeben. Bezeichnend für die Haltung der politischen Elite gegenüber den kleineren und größeren Nationalsozialisten, aber auch gegenüber der Wiedergutmachung war, dass gerade in diesem Ministerium besonders viele „Ehemalige“ angestellt wurden. Zum Teil war deren Beschäftigung aufgrund des „Belastungsgrades“ nur über Konsulentenverträge möglich, wie anfänglich auch bei Walther Kastner. Kastner war zwischen 1938 und 1943 in der Kontrollbank für die „Arisierung“ großer jüdischer Betriebe zuständig, wobei er eine derart bedeutende Stellung einnahm, dass jede dieser „Arisierungen“ an seine Zustimmung gebunden war. Dies wirkte sich, ähnlich wie bei den angeführten Interventionen für die Beamten des Ministeriums, in zynischer Weise im Nachkriegsösterreich äußerst positiv für ihn aus. Der ÖVP-Abgeordnete Eduard Ludwig verwies in seinem Unterstützungsschreiben für Kastner insbesondere auf dessen Erfahrung in der „Arisierung“: „Kastner war erfahrener Mitarbeiter der Vermögensverkehrsstelle 1938/45, dann im Bundesministerium für Vermögenssicherung und Wirtschaftsplanung Konsulent der Sektion II (Verstaatlichung) und jetzt, nach Entnazifizierung, kehrte er zur Advokatur zurück. Une bonne tête, zweifelsohne. Und sicher berufen, zu entwirren, an dessen Verknäuelung er namhaft wirkte.“[14] Kastner scheint maßgeblich für die Ausformulierung des Dritten Rückstellungsgesetzes verantwortlich gewesen zu sein und verfasste in weiterer Folge gemeinsam mit dem Sektionsrat im Justizministerium, Wilhelm Rauscher, auch die Gesetzeszusammenstellung und erläuternden Bemerkungen für das Vierte, Fünfte und Sechste Rückstellungsgesetz.[15]
Den Zynismus, Menschen, die zentrale Posten bei der Arisierungspolitik eingenommen haben, in er Zweiten Republik für die Restitutionsagenden einzusetzen, scheint man bewusst akzeptiert zu haben. Zu einem wollte man die Angelegenheit mit wenig Engagement durchboxen und zum andern versprach diese Vorgangsweise eine eher positive Bewertung – im Sinne der Mehrheitsbevölkerung und deren Interessen. Diese Grundhaltung formulierte Kastner durchaus treffend: „Da ein Massenproblem gibt es keine allseits befriedigende Lösung, sind Härten unvermeidbar. Ziel muss sein: Gerechtigkeit und Erhaltung der österreichischen Wirtschaft.“ [16] Mit der Erhaltung der österreichischen Wirtschaft war kausal das Einverständnis zu einem TäterInnenschutz verbunden, was sich nicht nur in den Bedenken über etwaige Steuerentgänge für den österreichischen Staat äußerte, sondern auch durch Hinweise darauf dokumentierte, dass Vermögen ins Ausland fließen könnten.
Die Bereitschaft, eine Regelung der Restitutionsproblematik einzugehen, basierte vor allem auf der Sorge um das internationale Ansehen Österreichs und den Bestrebungen, die Alliierten nicht zu verstimmen, um den Staatsvertrag so rasch wie möglich abzuschließen. Dies zeigte sich nicht nur in den politischen Wortmeldungen, sondern auch im Memorandum der Staatskanzlei, Auswärtige Angelegenheiten, mit dem Titel Die außenpolitische und die völkerrechtliche Seite der Ersatzansprüche der jüdischen Naziopfer. In dieser zehnseitigen, durch sehr offene Worte geprägten Einschätzung wurde explizit auf die Macht des Weltjudentums hingewiesen, was als Teil der antisemitischen Verschwörungstheorien einzustufen ist. Die Verfasser erläuterten, dass es zwar keinen „Judenstaat“ gebe, die imaginäre Gruppe der Juden und Jüdinnen jedoch großen Einfluss in der Außenpolitik und der Presse habe. Dadurch sei diese imaginäre Gruppe „der Juden“ in der Lage, „ihren Einfluss auf die öffentliche Weltmeinung auszuüben, andernteils, […] [hat, d. V.] sie es verstanden, die Regierungen anderer Staaten zu veranlassen, sich ihrer Forderungen anzunehmen. Dies gelang den Juden umso leichter, als sich das internationale Finanzkapital weitgehend in jüdischen Händen befindet. […] Nicht umsonst hat man daher das Judentum als die 5. Weltmacht bezeichnet, an deren Gegnerschaft Hitler-Deutschland zugrunde gegangen ist.“ [17] Die Offenheit antisemitischer Bilder von der „Weltmacht der Juden“ in einem Paper, das der Information und Sensibilisierung der politischen Entscheidungsträger dienen sollte, wirkt konsternierend.
Festzuhalten ist, dass nicht gesagt werden soll, es habe keine Bestrebungen und Erfolge bei der Restitution gegeben. Vielmehr kann der Umstand als Hindernis betrachtet werden, dass man bis in die 80er Jahre des vorigen Jahrhunderts kein Problembewusstsein entwickelte und dementsprechend agierte. Zusagen wurden getätigt und zurückgenommen, Verhandlungen verzögert und letztlich Gesetze ausgearbeitet, die einen nicht unerheblichen richterlichen Freiraum ließen.
Die neuerliche Aussonderung und antisemitische Vorurteile in der Politik
Unterstützt wurde der Politik von der Aussonderung der Menschen, die vor dem nationalsozialistischen Terrorregime und Vernichtungsantisemitismus fliehen mussten, durch die Zurückdrängung von Rückkehrambitionen. Dies erfolgte einerseits durch die fehlende Erleichterung der alliierten Einreiseregelungen, andererseits durch die selektive Einladungspolitik. Als weitere Unterstützung der Abwendung jüdischer Remigration kann auch die strikte Ablehnung von jüdischen Restitutionsforderungen angesehen werden. Selbst soziale Hilfestellungen wurden zuerst überhaupt nicht – wie bei dem Ersten Opferfürsorgegesetz, das ausschließlich politisch Verfolgte erfasste – und danach nur widerwillig gewährt. So befürchtete der damalige Bundespräsident Karl Renner[18], der als einer der zentralen Politiker der Sozialdemokratie der Ersten Republik und der ersten Nachkriegsjahre anzusehen ist, dass mit der Rückgabe des Vermögens „ein massenhaftes, plötzliches Zurückfluten der Vertriebenen„ verbunden wäre. Seine ablehnende Haltung gegenüber der jüdischen Remigration bekundete Renner auch gegenüber den Betroffenen selbst. Im Februar 1946 verlieh er nach Angaben von Richard Crossman[19] in einem Gespräch mit dem Palästina-Komitee seiner Vermutung Ausdruck, wonach die jüdischen Gemeinden sich nicht mehr erholen würden, und verwies nicht auf die Shoah, sondern auf den nicht mehr bestehenden Freihandel des Habsburgerreichs. 1945, sei „der endgültige und völlige Untergang des alten österreich-ungarischen Reichs. Mit ihm ist auch die Grundlage des jüdischen Handels verschwunden. Die meisten Juden sind vernichtet und ihr Eigentum in ganz Osteuropa als Deutsches Eigentum beschlagnahmt worden. Unter russischem Einfluss werden nun verstaatlichte Volkswirtschaften aufgebaut, die jüdischen Familienfirmen keinen Platz einräumen werden. Und selbst wenn es Platz gäbe […], glaube ich nicht, dass Österreich in seiner jetzigen Stimmung Juden noch einmal erlauben würde, diese Familienmonopole aufzubauen. Sicherlich würden wir es nicht zulassen, dass eine neue jüdische Gemeinde aus Osteuropa hierherkäme und sich hier etablierte, während unsere eigenen Leute Arbeit brauchen.“[20] Juden und Jüdinnen gehörten offensichtlich nach Renners Selbstverständnis nicht zur Wir-Gruppe der Österreicher und Österreicher.
Festzuhalten ist, dass sowohl die politischen Lenkungsmaßnahmen als auch die Narrative nicht dazu geeignet waren, antisemitischen Wertehaltungen entgegenzuarbeiten. Eine derartige Ausrichtung des politischen und gesellschaftlichen Tuns war jedoch auch nicht beabsichtigt. Dies bedeutet nichts anderes, als dass weder Schulddebatte noch Aufarbeitungsarbeit begonnen werden sollten und konnten. Antisemitische Wertehaltungen wurden weiterhin als Teil der österreichischen Gesellschaft akzeptiert, was sich auch durch das Fehlen eines entsprechenden Problembewusstseins ergab. Die politischen Parteien waren ausnahmslos dazu bereit, den ehemaligen Nationalsozialisten und -sozialistinnen aus machtpolitischen Überlegungen eine schnelle Integration in die Gesellschaft der Zweiten Republik zu gewähren. Neben der unzureichenden Empathie für die tatsächlichen Opfer des Nationalsozialismus, für deren Verluste, deren Leid und deren Traumatisierungen war für dieses Verhalten vor allem die numerische Realität ausschlaggebend. Kein Parteistratege konnte übersehen, dass es rund 500.000 Personen mit offizieller nationalsozialistischer Vergangenheit in Österreich gab. Hinzu kamen jene, die zwar Mitläufer, aber nicht eingetragene Mitglieder der NSDAP gewesen waren, sowie die noch nicht wahlberechtigten jungen Erwachsenen und Kinder. Jene, die Nationalsozialisten und -sozialistinnen waren oder von dem politischen Terrorregime profitiert hatten, waren, zusammen betrachtet, sicherlich eine relevante Anzahl an Menschen. Obwohl in den ersten beiden Legislaturperioden der Zweiten Republik sehr viele Politikerinnen und Regierungsmitglieder mit KZ-Vergangenheit vertreten waren, wurde ein erheblicher Teil der öffentlichen Meinung nicht von Personen beeinflusst, die eine klare und tiefgreifende Hinterfragung der nahen Vergangenheit und einen dementsprechenden Umgang mit dem Nationalsozialismus sowie dessen Untaten anstrebten. Wenngleich die politische Elite in den ersten vier Nachkriegsjahren durchweg eine ablehnende Haltung in Bezug auf den Nationalsozialismus vertrat, ergaben die Empathie gegenüber den „kleinen Nazis“ und der politische Kampf um die Stimmen der „Ehemaligen“ insgesamt eine politische Stimmung, die den Nationalsozialismus zwangsweise verharmlosen und damit beschönigen musste. Anzumerken ist, dass die machtstrategischen Überlegungen eine Sache sind, die Art und das Ausmaß des gezeigten Entgegenkommens eine andere. Dieser Widerspruch begann bereits mit dem Nationalsozialistengesetz, das auf Druck der Alliierten verschärft werden musste und von allen Parteien als „aufoktroyiert“ angeprangert wurde. Das Entgegenkommen der politischen Elite gegenüber den ehemaligen Nationalsozialistinnen und Nationalsozialisten war so groß, dass man auch vor einem politischen Eklat nicht zurückschreckte. So wurde am 13. Juli 1950, entgegen den Zusicherungen gegenüber den Alliierten, vor der Sommerpause auf politisch brisante Aktionen zu verzichten, ein Initiativantrag eingebracht, mit dem das Dritte Rückstellungsgesetz massiv zugunsten der Ariseure verbessert werden sollte.[21]
Die in ihre Heimat zurückgekehrten Juden und Jüdinnen hatten nicht nur, wie alle anderen Österreicher auch, mit den desaströsen wirtschaftlichen Verhältnissen zu kämpfen, sondern waren zudem mit numerischer Unterlegenheit, einer nur sehr schwach ausgeprägten Lobby zur Interessenvertretung sowie mit den weiterhin existierenden antisemitischen Haltungen konfrontiert. Die politischen Parteien waren, wie die Rückkehrer erkennen mussten, überaus bereit dazu, Moral gegen Wählerinnen einzutauschen. Hinzu kam, dass zwar die „Ehemaligen“ in die Politik drängten, die wenigen zurückgekehrten oder in Österreich überlebt habenden Juden und Jüdinnen jedoch nicht. Nicht unwesentlich erscheint mir in diesem Zusammenhang auch die historische Aussonderungserfahrung aufseiten der Juden und Jüdinnen sowie die gesellschaftsprägende Verweigerung der Annahme von der Mitschuld am NS-Terrorstaat und an dessen Unterdrückungs- und Vernichtungssystem. Nicht zu vernachlässigen ist dabei, dass sich in Interviews zeigte, dass die nach 1945 wieder in Österreich lebenden Juden und Jüdinnen keineswegs unpolitisch, jedoch gegenüber der institutionellen Politik äußerst skeptisch eingestellt waren. Auf der Grundlage der dargestellten Ist-Zustände kann festgehalten werden: Wir treffen in der langen Zeit der österreichischen Nachkriegsjahre auf eine Machtstruktur, die sich charakterisiert durch die Zurückdrängung und Aufrechterhaltung der Ohnmacht des imaginären Kollektivs der Juden und Jüdinnen auf der einen Seite und die Machtabsicherung der Mitglieder, Unterstützerinnen und Mitläufer des Nationalsozialismus und der Arisierungsbegünstigten auf der anderen Seite. Damit verbunden war, dass die wirtschaftliche und finanzielle Vermögensverschiebung hin zu den Täter- und Mitläuferinnengruppen in der Nachkriegszeit verfestigt und demokratisch legitimiert wurde.
Im Endergebnis ergab sich durch die Restitutionsgesetzgebung, die Restitutionsverschleppung und das rasche (Wieder-)Eingliedern ehemaliger Nationalsozialisten in die Bereiche der Politik, der Wirtschaft, der Justiz, aber auch der Wissenschaft und in alle sozialen Bereiche, dass es zu einer nachhaltigen Absicherung der Gruppe der NS-Sympathisanten und NS-Täter sowie der Profiteure des Vernichtungs- und Vertreibungsantisemitismus kam. Dies muss als fortgesetzte Diskriminierung der Juden und Jüdinnen angesehen werden. Insgesamt konnte gezeigt werden, dass die vornazistische antisemitische Aussonderung der Juden und Jüdinnen aus der Wir-Gemeinschaft sowie der nationalsozialistische Vernichtungsantisemitismus in der demokratisch organisierten österreichischen Gesellschaft nach 1945 sowohl in deren Wertehaltung als auch in den gesetzten Normen und Lenkungsmaßnahmen ihren Niederschlag fanden. Damit soll nicht ausgeblendet werden, dass es auch Bemühungen gab, zumindest den Verlust von Vermögen wiedergutzumachen. Diese gab es zweifelsfrei. Ebenfalls war man war sich des Umfangs der Mitschuld bewusst, diese wurde jedoch marginalisiert und aus dem Wahrnehmungsbild der nahen Vergangenheit ausgeblendet. Von zentraler Bedeutung für den Aufbau der Zweiten Republik muss die Bemühung angesehen werden, die „Ehemaligen“ so rasch und so unkompliziert wie möglich in die österreichische Gesellschaft zu integrieren. Damit kausal verbunden waren der Opfermythos sowie die Befürchtung, dass eine klare Vorgangsweise und eine allzu große Menge an ehemaligen Nationalsozialistinnen diesen infrage stellen könnten. Die politische Elite entschied, die Notwendigkeit der Aufarbeitung der damals nahen Vergangenheit und damit die Existenz der negativen Ismen und Stereotype zu leugnen. Damit entschied sie sich gleichzeitig dafür, den antisemitischen Wertehaltungen nicht konsequent entgegenzutreten, womit kausal verbunden war, dass sie diese als Teil der Politik und Gesellschaft in der Nachkriegszeit akzeptierten.
Es darf daher nicht verwundern, dass antisemitische Wertehaltungen in die Gesetzgebung der Nachkriegsjahre einflossen bzw. Gesetze auf ihnen begründet wurden. Dies muss etwa bei den Rückstellungsgesetzen mit ihren kurzen Fristen und ihrem engen Berechtigtenbegriff oder bei der jahrelangen Verweigerung der Restitution an sich beobachtet werden. Festzuhalten ist, dass eine Nichtregelung ebenfalls eine Regelung darstellt und in ihrer Konsequenz bewertet werden muss. Dieser Umstand trifft ebenfalls auf die Gleichbehandlung von an sich nicht gleich zu behandelnden Tatsachen zu. Die Position der österreichischen Regierung, der zufolge alle vor 1938 in Österreich lebenden Menschen Opfer des Nationalsozialismus sowie des Krieges waren, und deshalb niemand bevorzugt zu behandeln sei, muss als umfassende Verhöhnung der NS-Opfer angesehen werden.
[1] Alfons Gorbach kam mit dem sogenannten Prominententransport 1938 ins KZ Dachau und 1944 ins KZ Flossenbürg. Von 1945 bis 1970 war er Nationalratsabgeordneter der ÖV, von 1945 bis 1953 und danach wieder von 1956 bis1961 Dritter Präsident des Nationalrates sowie von 1961 bis 1964 Bundeskanzler. Politisch bemühte sich Gorbach um eine Union der sogenannten „Ehemaligen“ mit der ÖVP.
[2] Serloth, 2019, S. 222.
[3] Ibid.
[4] Im DÖW-Archiv ist nachzulesen: „Am 27. 9. 1939 in das KZ Flossenbürg überstellt und am 2. 3. 1940 nach Dachau rücküberstellt. Am 8. 5. 1943 vorläufig aus dem KZ Dachau entlassen. Am 8. 10. 1944 erneut verhaftet und in das KZ Mauthausen eingeliefert. Am 21. 1. 1945 Überstellung an das Landgericht Wien (Anklage: Vorbereitung zum Hochverrat). Haft bis 6. 4. 1945“. Im Austrofaschismus war Figl von 1934 bis 1938 Mitglied des Bundeswirtschaftsrates und ab 1938 Reichbauernführer. Nach 1945 war er Mitbegründer der ÖVP und bis 1952 ÖVP-Parteiobmann, von 1945 bis 1953 war Leopold Figl Bundeskanzler, danach Außenminister, 1959 wurde er Nationalratspräsident und damit die zweitranghöchste Person der Republik Österreich (nach dem Bundespräsidenten).
[5] Stüber trat 1932 der NSDAP bei; bis 1938 war er als Jurist im Staatsdienst tätig, danach bis 1945 bei der Tageszeitung Neues Wiener Tagblatt, daneben verfasste er Gedichte und Balladen, worin auch Hitlerwürdigungen waren. Von 1949-1953 war der VdU-Mandatar, danach war er bis 1956 ohne Fraktionszugehörigkeit im Nationalrat.
[6] Serloth, 2019, S. 229.
[7] Vgl. Serloth, 2019, S. 97
[8] Serloth, 2019, S. 124.
[9] Ibid.
[10] Vgl. Serloth, 2019, S. 45f.
[11] Ibid., S. 45.
[12] Ibid., S. 46.
[13] Serloth, 2019, S. 72.
[14] Ibid., S. 59.
[15] Vgl. Rauscher, Wilhelm/Kastner, Walther, Viertes, Fünftes und Sechstes Rückstellungsgesetz, Wien 1949.
[16] Serloth (2019), S. 60.
[17] Ibid., S. 111.
[18] Karl Renner leitete zwischen dem 27. April und dem 20. Dezember 1945 die Provisorische Staatsregierung, danach war er vom 20. Dezember 1945 bis zu seinem Tod am 31. Dezember 1950 Bundespräsident. In der Ersten Republik hatte er zwischen 1918 und 1933 verschiedene Ministerämter inne; u. a. war er vom 15. März 1919 bis zum 7. Juli 1920 Staatskanzler und vom 29. April 1931 bis zum 4. März 1933 Präsident des Nationalrates.
[19] Richard Crossman war ein führender Politiker der Labour Party und Intellektueller; vgl. https://warwick.ac.uk/services/library/mrc/explorefurther/digital/ crossman/urss/bio, pt. 13.07.2019.
[20] Serloth, 2019, S. 70.
[21] Serloth, 2019, S. 166.