Am 11. April 1884 wurde im Irgendwo der galizischen Trostlosigkeit des armen Judentums, in Kuty, Eisig (Jitzchak) Nachbar, der am 22. Dezember 1967 in Wien verstarb, geboren. Diese Rahmenbedingungen waren weder für das Kronland, noch für die Habsburger Monarchie besonders bemerkenswert. Eisig Nachbar war es allerdings schon. Er ließ so ziemlich alles, selbst seinen Namen, hinter sich, um mit einer mehr als bemerkenswerten Portion Intelligenz, Ehrgeiz und Mut seinen Weg in die Schicht der „gesellschaftliche Akzeptierten“ zu bewerkstelligen. Dies gelang ihm, objektiv gesehen, hervorragend – und doch musste er, genauso objektiv bewertet, am Antisemitismus der Gesellschaft, und nicht nur des Rassenwahns der Nazis, scheitern und im Ausgegrenzt-Sein als Jude verharren.
Zygmunt Bauman brachte den kausalen Zusammenhang zwischen Judentum und Ambivalenz mit dem Satz auf dem Punkt, dass „die Juden die modernen Zeiten bereits in der Rolle der Inkarnation von Ambivalenz betreten“ hätten. Sie störten den Ordnungsdrang der Moderne und die Sucht nach alles erklärenden Schachteldenken. Der moderne Antisemitismus produzierte Vorurteile, die nicht minder radikal und aussondernd waren als der alte Antijudaismus. Man klagte Juden und Jüdinnen des Kapitalismus, der Ausbeutung, des Wuchers genauso an, wie der Armut und Bettelei. Sie waren die Sündenböcke für die Infragestellung der soziopolitischen Herrschaftsordnung und gleichzeitig Sinnbild für Liberalismus, aber auch Sozialismus/Marxismus. Juden wurden – übergeleitet vom Antijudaismus – im zeitangepassten negativen Ismus erneut zur Bedrohung schlechthin. Die jüdische Weltverschwörung, die schon lange vor der Globalisierung als fixer Bestandteil der antisemitischen Stereotype fungierte, war nur mehr das Sahnehäubchen an Verschwörungs- und Verängstigungsnarrativen, die nicht nur zur Absicherung des österreichischen „gesellschaftlich anerkannten“ Antisemitismus gehörten, sondern mithalf, die Exklusion der Juden aus der Wir-Gemeinschaft abzusichern. Sachlichkeit konnte umgangen werden, genauso wie Fakten, damals wie heute.
Indem Juden und Jüdinnen über Jahrhunderte die Feindbilder waren, wo immer es Feindbilder bedurfte, mussten sich die negativen Narrative und Stereotype zwangsläufig tief in das gesellschaftliche Selbstverständnis graben. Für die VertreterInnen der Konservativen waren sie (galizische) Bettler und vaterlandslose Gesellen, für die Sozialisten Wucherer und Kapitalisten. Leopold Kunschak, der zu den führenden Politikern der Ersten und Zweiten Republik zu zählen ist, warnte im Jahre 1919 selbst vor „solche(n) Juden, die man als anständig bezeichnen darf. Doch auch diese kennen nur ein Ziel: Die Herrschaft über das christliche Volk.“
Eisig Nachbar, dessen Eltern nur nach jüdischen Ritual verheiratet waren, genoss im heutigen Sinne bloß eine marginale schulische Ausbildung, was allerdings nichts Ungewöhnliches war. Zwar wurde in Galizien im Jahre 1873 die sechsjährige Schulpflicht eingeführt, aber weite Teile der armen, jüdischen Bevölkerung lehnte die staatlichen Schulen entweder ab, oder konnten sich diese für ihre Kinder nicht leisten. Auch Eisig Nachbar wurde von seinem Vater, einem Talmudlehrer unterrichtet. Seine Ausbildungsbiographie ist allerdings bei weitem nicht gewöhnlich und zeigt, einen Jungen mit ausgeprägten Ehrgeiz und Willen. Mit 12 Jahren zog er, nach einem zweijährigen Intermezzo als Lehrling bei einem Uhrmacher, alleine nach Wien, wo er erst ein Jahr später im jüdischen Lehrlingsheim für Knaben, in der Grünentorgasse 26, eine Heimstätte fand und eine Schlosserausbildung im Jahre 1901 abschloss.
Mit ähnlicher Zielstrebigkeit und Einsatzbereitschaft war er im „Verein Jugendlicher Arbeiter“ tätig, dem er bereits mit 14 Jahren beigetreten war. Für einen jungen Juden, der von Galizien nach Wien gezogen war und es vom ungelernten Obdachlosen zu einem „Eingebetteten“ gebracht hatte, wäre diese Biographie bereits bemerkenswert gewesen. Ostjüdische Zuwanderer hatten in Wien nicht viel, und vor allem kein Entgegenkommen zu erwarten. Der politische Antisemitismus machte sich verstärkt öffentlich bemerkbar und in den politischen Diskursen wurden antisemitische Stereotype beinahe selbstverständlich verwendet.
Mit Assimilation konnte man der zunehmenden feindlichen Stimmung nicht entgegentreten, denn der rassistische Antisemitismus wandte sich nicht mehr an die Religionsgemeinschaft, sondern an die „Rasse“ und aus der konnte man weder austreten, noch sie ablegen. Dies wird auch Eisig Nachbar bewusst gewesen sein, der – nachdem er 1911 die Studienberechtigungsprüfung abgelegt hatte – aufgrund des massiven Antisemitismus auf der Juristischen Fakultät den Namen seines Vaters annahm und Eisig durch Emil ersetzte. Emil Maurer klang nun schon wesentlich wienerischer als Eisig Nachbar. Die Stigmatisierung durch jüdische Namen konnte er mit einer Namensänderung umgehen, den immer radikaler werdenden Antisemitismus nicht. Der nunmehrige Emil Maurer promovierte allen Widrigkeiten zum Trotz im Jahre 1916 an der Juristischen Fakultät der Universität Wien und diente danach im 1. Weltkrieg.
Politisch engagierte er sich innerhalb der Sozialdemokratie in der Rätebewegung, gehörte also zum „linken Flügel“, kandidierte 1918 im 7. Wiener Gemeindebezirk für den Volksverein Gerechtigkeit, dem Vorläufer der sozialdemokratischen Bezirksorganisation, und wurde zum Vizebezirksvorsteher gewählt. 1932 wurde er zum Bezirksvorsitzenden Neubaus gewählt. Nebenbei eröffnete er noch eine Rechtsanwaltskanzlei, was ein hohes Maß an Energie bezeugt.
Maurer war allgegenwärtig und er hatte auch keine Scheu Handlungen zu setzen bzw. die Bereitschaft dafür zu signalisieren. Als Kommandant des Republikanischen Schutzbundes ließ er im Bezirkskommissariat einen Schiesstand errichten und während der militärischen Auseinandersetzungen beim Justizpalastbrand am 15. Juli 1927 war er mit seinen Männern vor Ort.
Sein politisches Engagement bestimmte ab 1934 gänzlich sein Leben - allerdings fremdbestimmt. Als 1938 das nationalsozialistische Terrorregime mit seinem Rassenwahn, mit breiter Zustimmung der Bevölkerung, Österreich ins Deutsche Reich eingliederte, war er als Jude dem radikalen Vernichtungsantisemitismus schutzlos ausgeliefert. Am 1. April 1938 wurde er mit dem sogenannten Prominententransport ins KZ-Dachau deportiert, mit der Häftlingsnummer 13894 versehen und der Kategorie „Schutzhaft – Jude“ zugeordnet. Für Ironie war im Holocaust durchaus Platz, vor allem, wenn es um die „Verharmlosung“ der Taten ging. Im September 1938 wurde er ins KZ-Buchenwald „verlegt“. Maurer hatte Glück, wurde im Mai 1939 entlassen und konnte nach Großbritannien fliehen.
Bereits im Jahre 1946 kehrte er aus seinem Exil nach Österreich zurück, ein Unterfangen, dass, wie bei den meisten anderen remigrierten Juden und Jüdinnen, weder die österreichische Bevölkerung, noch die politischen Eliten goutierten. Bei der Erzählung des großen Nachkriegsnarrativs von Österreich als dem ersten Opfer Hitler-Deutschlands, wurden vor allem Mitglieder jener Opfergruppe, die den größten Leidens- und Vernichtungsdruck ausgesetzt gewesen war, als unerwünscht empfunden. Die ÖVP, die eine völlig andere Zusammensetzung der FunktionärInnen in der Ersten Republik gehabt hatte, sah sich dem Problem der Rückkehrenden wenig ausgesetzt. Anders die Sozialdemokratie, deren Geschichte und ideologische Ausrichtung zutiefst mitweiblichen und männlichen jüdischen Intellektuellen verbunden war und die eine Reihe an Jüdinnen und Juden als VordenkerInnen, Funktionäre und Abgeordnete hatte. Nach 1945 hatten Politiker wie Oskar Helmer, dessen Antisemitismus verbrieft ist, ein gewichtiges Wort zu sprechen. Aber auch Adolf Schärf, über dessen antisemitische Einstellung noch immer diskutiert wird, leistete seinen unrühmlichen Beitrag, um die Sozialdemokratie nicht wieder zu einer „Judenpartei“ werden zu lassen.
Die Sozialdemokratie, die in den offiziellen Stellungnahmen den Antifaschismus und das „Nie wieder“ auf ihre Fahnen heftete, umwarb gleichzeitig die sogenannte “ehemaligen” Nationalsozialisten als potentielle Wähler. Damit verbunden war – auch aufgrund des unreflektierten Antisemitismus der Nachkriegsjahre -, dass man sich gegen Restitution, Widergutmachung oder auch nur Anerkennung der Juden als primäre Opfer des Nationalsozialismus sperrte. Mit der Erklärung „Wir haben alle gleich gelitten“ wurde der österreichische Beitrag am Nationalsozialismus und Holocaust bis in die 80er Jahre des 20. Jahrhunderts weggewischt.
Emil Maurer zog sich auf ein neues politisches Betätigungsfeld zurück und kandidierte 1948 als Listenführer für den Bund Werktätiger Juden, der sozialdemokratischen Fraktion in der IKG, und wurde zum Vizepräsidenten gewählt. Im Jahre 1952 konnte er den Sieg für sich verbuchen und blieb bis 1963 Präsident der IKG.
Die Ambivalenz im Umgang mit dem eigenen Antisemitismus, veranschaulicht die österreichische, und damit auch die sozialdemokratische Ritualpolitik, die sich in den Ehrungen niederschlägt. Mit der Ehrung einer Person verbindet man eine tiefe, allgemeine Anerkennung, eine Verbeugung vor dieser Person und ihren Leistungen. Man kann sie aber auch als eine Art joviales Schulterklopfen gegenüber den Opfern, jenen, die diskriminiert und marginalisiert wurden und werden, verstehen. Ein Schulterklopfen, dass mit dem Anspruch der Akzeptierung des Machtgefüges und der Unterlassung dessen Infragestellung genauso verbunden ist, wie das Stellen von eigenen Ansprüchen.
Adolf Schärf, hielt zur Ehrung Maurers zu dessen 70. Geburtstag eine Laudatio. Am 10. April 1964 bekam Maurer anlässlich seines 80. Geburtstages die Goldene Ehrenmedaille der Stadt Wien überreicht. Das Ritual der Ehrung der Exkludierten als Balsam für das Wohlgefühl der Aussondernden.
Der jüdische Bezirksvorsteher Neubaus und Präsident der IKG war eine geachtete Persönlichkeit, die nie eine Chance hatte, in die Wir-Gruppe der Gleichen aufgenommen zu werden. Eisig Nachbar wurde trotz größter Bemühungen, außerordentlicher Intelligenz und Ehrgeiz sowie bemerkenswerten Erfolgen, trotz des Aufstiegs in die „Gesellschaft der Honoratioren“, letztlich von dieser auf sein Jude-Sein “zurückgestuft”, was ihm – ganz in der österreichischen Tradition der Konfliktverdrängung - mit ein paar Ehrungen behübscht wurde. All dies manifestiert, dass Juden und Jüdinnen nicht als Gleiche unter Gleichen akzeptiert wurden und dass in Österreich lange noch nach 1945 diese Marginalisierung in der Herrschaftsstruktur des Landes fest verankert war.