Jom Hashoah - Zur Aktualität des Eintretens gegen Antisemitismus im österreichischen Gedenkjahr

von Barbara Serloth

Gedenken geht über das Erinnern hinaus. Es inkludiert Respekt, Hochachtung und Demut vor Leistungen, Leben oder den Schicksalen, die Menschen vollbrachten, meistern oder auch ertragen mussten. Im kollektiven Gedenken wird diese, zumeist, ritualisiert, zu einem gemeinsamen Sich-In-Erinnerung-Rufens. Gedenken bedeutet, dass Gewesenes und unsere Toten im Jetzt verbleiben, als Teil von uns und unserer kollektiven Erinnerung.

 

Jom Hashoah ist der Gedenktag an die Opfer des Holocaust, jenen Millionen von Menschen, die, weil sie Jüdinnen und Juden waren oder dem imaginären Kollektiv der Juden zugeordnet wurden, diskriminiert, entrechtet, beraubt, gedemütigt, vertrieben oder gar ermordet wurden. Für all dies gab es eine Vielzahl an Motiven, wie Habgier, Neid, Bösartigkeit oder Sadismus, aber letztendlich nur einen Grund: Antisemitismus.

Der Holocaust fiel nicht vom Himmel und seine Durchführbarkeit bedurfte u. a. einen tief verankerten rassistischen Antisemitismus. Die rassistische Ausgrenzungs- und Verfolgungspolitik gegen über Juden und Jüdinnen begann bereits Ende des 19. Jahrhunderts und wurde für die österreichische Erste Republik mitprägend. Es gab die unterschiedlichsten Ausformungen; es gab den Radauantisemitismus, genauso wie den sogenannten Salon-Antisemitismus, mit dem, in gepflegter Atmosphäre, diskret der „Wir-Gruppe“ in vielfältiger Weise gehuldigt wurde. Der typisch Wiener Graf-Bobby-Witz „Diese blöden Hakinger, jetzt haben sie uns unseren ganzen schönen Antisemitismus verpatzt“ entlarvt sowohl die Ansicht, dass dieser Antisemitismus, nichts mit dem der „Pöbeln" zu tun hätte, als auch jene, dass er an sich „nebenwirkungsfrei“ wäre. Man adjustierte den gepflegten Antisemitismus eine „Salon-Beiläufigkeit“, die übersah, dass Diskriminierung und Aussonderung nichts mit mehr oder weniger gepflegten Umgangstönen zu tun hat, sondern mit der damit verbundenen Einstellung und Verweigerung des Gleichheitsgedankens.

Liest man die Stenographischen Protokolle, einem Herzstück der Primärquellen des realpolitischen Diskurses der Konstituierenden Nationalversammlung und der Ersten Republik wird deutlich, dass der Antisemitismus Teil der politischen Auseinandersetzung und Politischen Kultur war. Juden wurden zu einem "Etwas" stilisiert, das die Gesellschaft und Gemeinschaft bedrohte. Sie wurden als Arme, als Bettler, als Wohlhabende, Wucherer, Banker, Intellektuelle, als Liberale, Sozialisten, Kommunisten an den Pranger gestellt. Ihre Armut war genauso illegitim als ihr Reichtum. Ihre Intelligenz bedrohlich und ihre Dummheit hintertrieben. Es waren diese Bilder und Stereotype, die von den Nationalsozialisten mühelos übernommen und negativ weitergesponnen werden konnten. So hielt Leopold Kunschak, einer der einflussreichsten Politiker der Volkspartei, der ein bekennender und virulenter Antisemit gewesen ist, am 29. April 1920 eine flammende Entlastungsrede für die Verantwortlichen der antisemitischen Studentenkrawalle, die einige Tage davor an der Wiener Universität stattgefunden hatten. Diese sah er als Ausdruck der „schweren Erkrankung“ an, „in welcher sich unsere öffentliche Ordnung und unser öffentliches Leben überhaupt befinden.“

Kunschak blieb bei dieser radikal antisemitischen Rede auf den Boden des damaligen Parteiprogrammes der Christlichsozialen Partei. Dort wurde der „Abwehrkampf gegen die jüdische Gefahr“ und die „jüdische Herrschsucht“ angeführt und muss als politische Ausrichtung, die zwangsweise in der Realpolitik umgesetzt werden sollte, verstanden werden. Im Parteiprogramm hieß es: „Die auch im neuen Staate hervortretende Korruption und Herrschsucht jüdischer Kreise zwingt die Christlichsoziale Partei, das deutschösterreichische Volk zum schärfsten Abwehrkampf gegen die jüdische Gefahr aufzurufen. Als eigene Nation anerkannt, sollen die Juden ihre Selbstbestimmung haben; die Herren des deutschen Volkes dürfen sie aber nicht sein.“

Die negativen Erzählungen und Bilder umfassten dabei immer auch, die imaginäre „internationale Macht“ des Judentums, die als umfassendes Bedrohungsszenarium aufgebaut wurde und wird. Die Krake, die heute noch – antisemitisch interpretiert – einige Globalisierungsgegner bemühen, um vor dem entgrenzten Kapital zu warnen, knüpft an dieses antisemitische Bild des allgegenwärtigen, skrupellosen, international vernetzten, geldgierigen, machtheischenden Judentums an.

Das antisemitische Narrativ des sich stets "ausbreitenden" Judentums bemühte nach 1945 auch der Grandseigneur der österreichischen Sozialdemokratie, Karl Renner, der, jenseits eines wirklich empfundenen Verantwortungsgefühls für die, auch von ÖsterreicherInnen mitzuverantwortende, Shoah, sich gegen die jüdische Remigration aussprach und im Jahre 1946 vor dem Palästina-Komitee problemlos erklärte: „Was auch immer die Regierung tun mag, die jüdische Gemeinde kann sich nie erholen. Unter den Habsburgern, als es Freihandel im ganzen österreich-ungarischen Reich gab, florierte sie. Nun ist dies alles vorbei – 1945 ist der endgültige und völlige Untergang des alten österreich-ungarischen Reichs. Mit ihm ist auch die Grundlage des jüdischen Handels … Unter russischem Einfluss werden nun verstaatlichte Volkswirtschaften aufgebaut, die jüdischen Familienfirmen keinen Platz einräumen werden. Und selbst wenn es Platz gäbe, … glaube ich nicht, dass Österreich in seiner jetzigen Stimmung Juden noch einmal erlauben würde, diese Familienmonopole aufzubauen. Sicherlich würden wir es nicht zulassen, dass eine neue jüdische Gemeinde aus Osteuropa hierherkäme und sich hier etablierte, während unsere eigenen Leute Arbeit brauchen.“ Insbesondere die Formulierung, „dass Österreich nicht noch einmal Juden erlauben würde“ zeigt die Ausgrenzung jener Gruppe von ÖsterreicherInnen, die zur imaginären Gruppe der Jüdinnen und Juden gezählt wurden. Es zeigt, dass sie eben nicht als selbstverständlicher Teil der Wir-Gruppe "ÖsterreicherInnen" angesehen wurden.

Österreich hat sich nach 1945 hinter oder auch im Opfermythos behaglich versteckt und sich jeder Schuldaufarbeitung versagt. Dies inkludierte, dass ein Opferfürsorgegesetz die Mehrheit im Parlament fand, das die „rassisch Verfolgten“ ausklammerte, womit nichts geringeres gesetzlich verankert wurde, als dass der österreichische Staat einen Teil seiner BürgerInnen die selbstverständliche Fürsorge, zu der wohl jeder Staat zumindest gegenüber seinen Staatsangehörigen verpflichtet ist, versagte. Zwei Jahr später wurde diese systemische Diskriminierung zwar aufgehoben, jedoch konnte damit der ursprüngliche Akt der Ausgrenzung jener Gruppe, die den größten Leidens- und Vernichtungsdruck im Nationalsozialismus ertragen musste, nicht aufgelöst werden.

Die Kommunikationslatenz, die gegenüber dem Antisemitismus herrschte erlaubte bequem, den, beinahe als selbstverständlich zu bezeichnenden, weiterbestehenden Antisemitismus zu ignorieren oder gänzliche auszublenden. Aufgrund des Narratives des Opfermythos konnte es, nach offizieller Darstellung, zudem auch keine TäterInnen, keine Schuldfragen und praktischerweise auch keinen Antisemitismus geben. Österreich legte sich in die flauschige Decke der Unschuld; die politische Elite von SPÖ und ÖVP umgarnte die ehemaligen, sogenannten minderbelasteten NationalsozialistInnen und vermied Fragen nach der Wertehaltung ihrer Bevölkerung (und ihrer politischen Eliten) oder der Restitution. Man flüchtete sich in die politische Haltung des Heimatfilmkitsches, der durch keine unbequemen Tatsachen in Frage gestellt werden sollte.

Seit Franz Vranitzky in seiner legendären Rede vor dem Nationalrat die Mitschuld Österreichs am Nationalsozialismus und an den nationalsozialistischen Unmenschlichkeiten hielt, wurde und wird viel für den Kampf gegen Antisemitismus getan. Nichtsdestotrotz gilt jedoch noch immer die Verniedlichung und Verharmlosung des Antisemitismus und eine neue Kommunikationslatenz. Wenn in Wien, bei einer Demonstration zum Al-Quds-Tag die „Befreiung Jerusalems von den Juden“ gefordert wird und im Vorfeld einer dieser Demonstrationen vor einigen Jahren auf Facebook eine Karikatur die Runde machte, in der offen zum Mord an Juden aufgerufen wurde (das „Bild“ zeigte einen in einer Grube stehenden Juden, am Grubenrand standen Muslime, der „Bildtext“ war „jeder Muslim bekommt ein Kübel Wasser“) zeigt sich, dass radikaler Vernichtungsantisemitismus noch immer einen Platz in den Gassen Wiens bekommt; wenn die BDS-Bewegung ihr zeitangepasstes Motto „Kauft nicht bei Juden“ bewirbt und weiterhin die selbstverständliche Existenzberechtigung Israels hinterfragt wird, dann ist der Antisemitismus noch immer als lebendiger Ausgrenzungs- und Verfolgungs-Ismus zu verstehen. Antisemitische Haltungen, Aktionen und Stereotype müssen als solche benannt werden - ohne Wenn und Aber.

73 Jahre nach dem Ende des nationalsozialistischen Rassenwahns erleben wir in Europa einen zunehmenden Ausgrenzungs- und Verfolgungsantisemitismus, der sich aus alten rassistischen und neuen, religiös-politischen Antisemitismen speist und durch die noch immer gelebten Gleichgültigkeiten und verharmlosenden Gleichsetzungen relativiert wird.

Der Nationalsozialismus verdeutlichte, zu welchen Untaten Menschen fähig sind, wenn die Abkehr von einem nicht hinterfragbaren Gleichheitsgrundsatz erfolgt und Diskriminierungen und Ausgrenzungen als  Teil des gesellschaftlichen Selbstverständnisses aufgebaut und radikalisiert werden. Hannah Arendt hat treffsicher, darauf hingewiesen, dass Antisemitismus eine „tödliche Gefahr“ für Juden ist. Antisemitismus auch nur zu dulden, bedeutet  daher letztlich, Ausgrenzung, Diskriminierung, Gewalt oder gar Mord zu dulden. Aus diesem Grund ist jeder Form des Antisemitismus, egal in welcher Form, egal mit welchem Hintergrund oder welcher vermeintlichen Legitimation, die nichts anderes als die Bemäntelung eines gelebten Antisemitismus ist, entgegenzutreten.

 Die Tatsache, dass 80 Jahre nachdem die Nationalsozialisten in Österreich die Macht übernahmen Antisemitismus noch immer ein diskriminierender, ausgrenzender, gewaltbereiter oder auch gewalttätiger Teil des europäischen Gesellschaftslebens ist, zeigt nur, dass jeder einzelne Staat in Europa, auf seine Weise, versagt und es zugelassen hat, dass antisemitische Stereotype weitertradiert werden und antisemitische Parteien oder Bewegungen (weiter) agieren können. Auch das ist mitzudenken, wenn wieder der antisemitische Antizionismus als Eintreten für eine Befreiungsbewegung verharmlost wird und über einen „Schlussstrich“ unter das Kapitel „Nationalsozialismus und Schuldaufarbeitung“ gesprochen wird.