Bertha Pappenheim war eine Pionierin der jüdischen Frauenbewegung und der Sozialarbeit. Neben den Frauenrechten und der "Hilfe zur Selbsthilfe" durch Erziehung zeichnete sie auch ihr Kampf gegen Mädchenhandel und Prostitution aus. Sie wandte als eine der Ersten eine Art Feldforschung an und begriff Prostitution als soziales Problem.
Text von Barbara Serloth
Kaum eine andere Frau hat sich für die Emanzipation der jüdischen Frauen, sowohl
innerhalb der Gesellschaft als auch innerhalb der jüdischen Gemeinschaft, mit
so viel Engagement, Mut und Witz eingesetzt wie Bertha Pappenheim. Sie war eine
der wichtigsten Pionierinnen der Frauenbewegung und Sozialarbeit, der erst sehr
spät jener Platz in der Geschichte der feministischen Bewegung, in der Bewegung
der jüdischen Frauenrechte und Arbeit gegen Mädchenhandel und Prostitution
eingeräumt wurde, der ihr zusteht. Als im Jahre 1954 die Deutsche Post eine
Briefmarke mit ihrem Porträt in der Reihe „Helfer der Menschheit“ herausgab,
wurde die Öffentlichkeit wieder auf die Gründerin des Jüdischen Frauenbundes
und Teil der deutschen Frauenbewegung aufmerksam.
Bekannt
wurde sie nicht aufgrund ihrer Arbeit für die Frauenrechte, ihres sozialen
Engagements für junge Frauen und Prostituierten, sondern aufgrund der Tatsache,
dass sie Anna O. war, jener „Fall“, der von Sigmund Freud und Josef Breuer in
ihrem Buch „Studien über Hysterie“ beschrieben wurde. Alles was Berta
Pappenheim in ihrem Leben vollbrachte, und es war nicht wenig, wurde und wird
immer wieder an diese Krankengeschichte gemessen. Nicht die HistorikerInnen
oder AufarbeiterInnen der Frauenbewegungen haben ihr Leben und Werk für ihre
Arbeit entdeckt, sondern die PsychoanalytikerInnen. Das wäre an für sich
bedeutungslos. In ihrem Fall verzerrt es jedoch den Blick auf den Menschen und
das Werk. Bertha Pappenheim ist eine
vielfach Missdeutete. Zu ihren Fehlern, Mängeln und Irrtümern, die objektiv nachweisbar
sind, haben sich viele Spekulationen hinzugesellt, die sehr oft nichts mit der
Person Bertha Pappenheim und mehr mit der Krankengeschichte Anna O. zu tun
haben. Zwischen psychoanalytischen und
antisemitischen Vorteil wurde Berta Pappenheim zu einem Phänomen klein
geschrieben, dass oft nur wenig mit den tatsächlichen Menschen gemeinsam hat. Dabei
wäre gerade das Werk diese Frau geeignet, weibliches Wollen und Meistern-Können
darzustellen.
Doris
Edinger versuchte im Jahre 1963 die Überreste ihres schriftlichen Nachlasses
zusammenzustellen. Letztendlich war es ihr möglich, das Buch „Bertha Pappenheim
– Leben und Schriften“ zu veröffentlichen und damit erstmals das Augenmerk auf
das soziale und politische Werk dieser Frau zu legen. Edinger verweist in der
Einleitung ihres Buches auf den enormen Wissensverlust durch den
Nationalsozialismus, die Shoa und die Flucht der Freunde und Bekannten
Pappenheims. Pappenheims persönlicher Nachlass wurde in der Pogromnacht am 9.
November 1938, als das Heim des Jüdischen Frauenbundes niedergebrannt wurde,
vernichtet. Die von ihren Bekannten geretteten Aufzeichnungen waren, wie diese
selbst, in alle möglichen Städte und Länder verstreut. Nichtsdestotrotz gelang es Edinger, Briefe
und Aufzeichnungen zusammenzustellen und damit den Blick auf den Menschen
Pappenheim zu ermöglichen. 1979 schien von Marion A. Kaplan die Aufarbeitung
des Jüdischen Frauenbundes „The Jewish Feminist Movement in Germany: The
Compaigns of the Judischer Frauenbund 1904-1934“, das 1981 auch in deutscher
Sprache veröffentlicht wurde. 1984 folgte die Biographie von Ellen M. Jensen
unter dem Titel „Streifzüge durch das Leben von Anna O./Bertha Pappenheim“. Vor
allem seit dem Beginn des 21. Jahrhunderts wurden nicht nur Aufarbeitungen über
Bertha Pappenheim vermehrt veröffentlicht, sondern vor allem auch ihre eigenen
Publikationen der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Ab den 80er Jahren des
letzten Jahrhunderts kann man davon sprechen, dass ihr Werk vermehrt
wahrgenommen und gewürdigt wird, was sich nicht nur in den Zunahme der
Publikationen über sie niederschlägt.
Die
Anfänge und die Krankengeschichte
Am 27.
Februar 1859 Uhr wurde Bertha Pappenheim in die wohlgeordnete Welt des
gutsituierten Wiener Bürgertums hineingeboren. Ihre Lebenswege Schienen von
Anfang an vorgezeichnet zu sein. Die Familie gehörte dem orthodoxen Judentum
an. Ihr Vater Siegmund Pappenheim, war Mitbegründer der Wiener orthodoxen
Synagoge „Schiffschul“, die im Jahre 1864 in der großen Schiffgasse in Wien
Leopoldstadt (2. Wiener Gemeindebezirk) eröffnet wurde. Ihre Mutter, Recha
Pappenheim (geb. Goldschmidt), stammte aus Frankfurt am Main, was für ihren
späteren Lebensverlauf von entscheidender Bedeutung wurde.
In ihrem
ersten Lebensabschnitt lebte Bertha Pappenheim das Leben einer höheren Tochter
und wurde für nichts Anderes als für die Ehe und für gesellschaftliche
Repräsentationspflichten erzogen. Ein Umstand, den sie später halb spöttisch,
halb trotzig immer wieder erwähnt. Erst mit der unerwarteten Krankheit ihres
Vaters im Jahre 1880 wurde sie aus dem problemlosen, vorbestimmten Leben
gerissen. Die Pflege und der Tod des Vaters verursachten bei ihr schwere
psychische Probleme. Josef Breuer, der der Hausarzt der Familie war, begann
daraufhin mit der „Talking cure.“ Für Bertha Pappenheim bedeutete diese
Vereinnahmung durch die Gründungsväter der Psychoanalyse, dass ihr Werk immer
unter dem Aspekt der „Studien zur Hysterie“, jener als „typische“ Frauenkrankheit
im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert eingestuft wurde. Max Rosenbaum und
Melvin Muroff, die 1984 eine der ersten Aufarbeitungen des psychoanalytischen
Falls „Anna O.“ vorlegten (Anna O. Fourteen Contemporary Reinterpretations),
fragten, ob Bertha Pappenheim ein Opfer einer männlich dominierten Gesellschaft
war. Dies war sie wohl nicht wie jede andere Frau. Allerdings ist sie
sicherlich als ein Opfer der männlich dominierten Anfänge der Psychoanalyse zu
sehen und auch des „Übervaters“ Sigmund Freud.
Die
gesamten Rahmenbedingungen des Krankenfalles wurden Jahre später von Sigmund
Freud, dessen Biograph Ernest Jones übermittelt und von diesem wiedergegeben.
Bei der Darstellung des Falles Anna O. handelt es sich dabei bei einem nicht
unwesentlichen Teil um eine Art wissenschaftlicher Stiller Post. Ein
Wissenschaftler erzählt dem anderen von den Rahmenbedingungen eines Falles von
ihm, die er selbst nicht authentisch darstellt, dieser beschreibt diese
Erzählungen seinem Biographen, der sie letztlicher „verarbeitet“. Jones war es
auch, der in den Freud-Biographien, die ab dem Jahre 1954 veröffentlichte
wurden, das Pseudonym „aufdeckte“.
Umzug
nach Frankfurt und Beginn ihres sozialen und feministischen Engagements
Nach dem
Tod ihres Vaters zog Bertha Pappenheim mit ihrer Mutter nach Frankfurt am Main.
Mit dem Ortswechsel begann für sie ein völlig neuer Lebensabschnitt. Die
Familie Goldschmidt war eine über Jahrhunderte in Frankfurt eingesessene und
angesehene Familie, die sich auch durch ihre Tätigkeit im Kunstmäzenatentum
einen Namen gemacht hatte.
Bertha
Pappenheim begann sich literarisch zu betätigen und auch Werke aus dem
Englischen und Jiddischen zu übersetzen. 1899 veröffentlichte sie, noch unter
dem Pseudonym P. Berthold, u.a. die Übersetzung von Mary Wollstonecrafts
berühmtem Werk „Verteidigung der Rechte der Frau“. Danach übersetzte sie die
Memoiren von Glückel von Hameln aus dem Jiddischen. Glückel von Hameln, die
1691 mit ihren Memoiren begann, gilt als erste deutsch-jüdische Autorin und gab
tiefe Einblicke in das jüdische Leben zu dieser Zeit.
Ihre
soziale Arbeit startete sie im jüdischen Mädchenhaus des israelitischen
Frauenvereins, 1895 übernahm sie zuerst die Vertretung dessen erkrankten
Leiterin Lydia Lepehne und danach die Nachfolge. Von zentraler Bedeutung für
Pappenheims Arbeit war ihr Ziel, Mädchen nicht nur eine Ausbildung zu
ermöglichen, sondern Ihnen auch eine bewusste jüdische Identität auf ihren
Lebensweg mitzugeben. Darin äußerte sich bereits die beiden wesentlichsten
Ausrichtungen von Bertha Pappenheim Einstellung. Erstens, dass Menschen mit
einer gediegenen Ausbildung ihr Leben meistern können, so dass alles
unternommen werden müsse, Ihnen diese zu gewährleisten und zweitens das
Eintreten für die Vermittlung einer bewussten jüdischen Identität. Ihr Kampf
für das Judentum insgesamt und die Möglichkeit in der Ausbildung vor allem für
Frauen prägte ihr Leben.
Damit
junge, jüdische Frauen weder in „gefährliche Kreise“ hineinschlitterten, noch
zu den „falschen“ Hilfsorganisationen gingen, wurde von ihr, neben den
Waisenheim auch der „Mädchenklub“ gegründet, der für bereits berufstätige junge
Frauen konzipiert wurde. Da am Beginn des 20. Jahrhunderts der Eintritt in die
Berufstätigkeit wesentlich früher als heute erfolgte und die junge Frauen oft
alleine in einer fremden Stadt leben mussten, ohne irgendeiner Weise auf diese
Selbstständigkeit vorbereitet worden zu sein, war die Idee einer
Freizeiteinrichtung naheliegend, wenn auch nicht selbstverständlich. Der
„Mädchenklub“ war als Einrichtung für die Abendstunden und die freien Tage
gedacht, vermittelte aber auch in Zusammenarbeit mit der „Weiblichen Fürsorge“,
die ebenfalls auf Initiative von Berta Pappenheim gegründet wurde, für obdachlose
junge Frauen Arbeitsplätze. Ellen A. Jensen schrieb über den „Mädchenklub“: „Sie
sah in diesem Klub auch ein Mittel, mit welchen man die jungen Mädchen
moralisch, sozial und in die jüdische Religion Richtung beeinflussen könnte“.
Bertha
Pappenheim und jüdische Frauenbewegung
1904
gründete Berta Pappenheim gemeinsam mit Gesinnungsgenossen den „Jüdischen
Frauenbund Deutschland“ (JFB). Der JFB verstand sich als bürgerlicher,
konfessioneller Frauenverband, der für die Rechte der Frau im Rahmen eines
bürgerlichen gesellschaftlichen Selbstverständnisses, aber auch innerhalb der
Religionsgemeinschaft eintrat. Marion A. Kaplan beschrieb die Einstellung der
Frauen, die Mitglieder des JFB waren, als grundsätzlich konservativ-bürgerlich.
„Das typische JFB-Mitglied wollte Hausfrau und Mutter sein, die im privaten Bereich
ihren Status akzeptierte und die traditionelle freiwillige Sozialarbeit in der
Gemeinde leistete; die einen Beruf und Bildungschancen für Frauen forderte,
aber für spezifisch „weibliche“ Berufe; sie bestand auf Gleichberechtigung der
Frau in Politik und Gesellschaft, aber sie tat es in ihrer eigenen Art als ‚Dame‘.“
Die
Mitglieder des JFB hatten, anders als ihre säkularen „Mitstreiterinnen“, nicht
nur mit Diskriminierung der Frauen in einer rein patriarchalen Welt zu kämpfen,
sondern waren zusätzlich mit dem Antisemitismus der deutschen Gesellschaft
konfrontiert. Sie mussten gegen die Ungleichbehandlung des eigenen Geschlechts
und gleichzeitig gegen die antisemitischen Vorteile, die nicht nur in der
deutschen Gesellschaft, sondern selbstverständlich auch innerhalb der
Bürgerlichen Frauenbewegung Deutschlands vorhanden waren, ankämpfen. Die
Emanzipation der Juden und danach die Emanzipation der Frauen waren für sie
unterschiedliche „Kampfplätze“. Erst als durch das Reichsgesetz vom 22. April
1871 die einzelnen Gleichstellungsgesetze übernommen und zu einem allgemeinen,
für das ganze Kaiserreich geltende Gesetz beschlossen wurde, wurden Juden in
Deutschland die volle bürgerliche und politische Gleichstellung zuteil. (In
Österreich erhielten Juden mit dem Staatsgrundgesetz von 1867 die vollen
staatsbürgerlichen Rechte.) Damit war jedoch nur ein Teil der
Emanzipationsforderungen erfüllt, denn als Frauen waren Jüdinnen, wie alle
anderen Frauen in Deutschland auch, noch immer nicht gleichberechtigt. Anders
als in Österreich, wo im Jahre 1907 das Kurienwahlsystem abgeschafft und das
allgemeine Männerwahlrecht eingeführt worden war, waren im Deutschen
Kaiserreich die Frauen ab 1871, unabhängig ihrer finanziellen Situation, von
den Wahlen ausgeschlossen, das allgemeine Männerwahlrecht hingegen bereits
eingeführt. Der politische Ausschluss aller Frauen wurde damit über einen
wesentlich längeren Zeitpunkt aufrechterhalten, als in Österreich. Sowohl in
Österreich als auch in Deutschland wurde erst nach dem 1. Weltkrieg das
Frauenwahlrecht eingeführt. (In Österreich wurde das allgemeine Wahlrecht am
12. November 1918 durch das Gesetz über die Staats- und Regierungsform von
Deutschösterreich und in Deutschland am 30. November 1918 mit der Verordnung
über die Wahlen zur verfassungsgebenden deutschen Nationalversammlung
eingeführt.) Wenn man so will, waren die drei großen Emanzipationsbewegungen in
Deutschland nicht so „sichtbar“ zu ihren politischen Rechten gekommen und die
Emanzipationsbewegung der Arbeiterschaft war „verwässerter“ als in Österreich.
Als die deutschen Frauen endlich die Wahlberechtigung hatten, war dies jedoch,
wie Marion A. Kaplan bemerkt, „nur ein ‚weltlicher‘ Sieg“, da sie bei den
jüdischen Gemeindewahlen weiterhin keine Stimmberechtigung hatten. Bertha
Pappenheim setzte sich zwar engagiert ein, auch diese Stimmberechtigung zu
erhalten, wurde aber enttäuscht.
Der
Kampf für Emanzipation und Gleichberechtigung der bürgerlichen Frauen bedeutete
nicht, dass auch zwischen den einzelnen Frauenvereinigungen Vorurteile und
Antisemitismus spürbar gewesen wäre. Bertha Pappenheim trat immer wieder auch
gegen die Benachteiligung der Jüdinnen innerhalb der bürgerlichen
Frauenbewegung ein. So z.B. im Jahre
1915, wie Marion A. Kaplan bemerkt, als die große alte Dame des Bund Deutscher
Frauenvereine (das war der Dachverband der bürgerlichen Frauenbewegung), Helene
Lange, in einer Rede auf dem JFB „vergessen“ hatte. Sie intervenierte bei der
Vorsitzenden des BDF und Helene Langes enger Vertrauten, Gertrude Bäumer, gegen
diese „Vergesslichkeit“. Gertrude Bäumer erklärte jedoch nur knapp, dass sie
die private Meinung von Mitgliedern des BDF keine Zensur unterziehen könnte.
Diese Antwort war ein reiner Affront. Bertha Pappenheim beschuldigte daraufhin
Helene Lange und Gertrude Bäumer „der Gehässigkeit gegenüber Jüdinnen und im
Judentum“. Als Folge trat der JFB unter Protest aus dem „Nationalen
Frauendienst“, dem Zusammenschluss aller Frauen Organisationen Deutschlands im
1. Weltkrieg, aus.
Dies ist
nur ein Beispiel der immer wieder auftretenden Querelen zwischen dem JFB und
dem BDF. Den Ausgangspunkt der Missverständnisse bildete - wie Marion Kaplan
ausführt - Gertrude Bäumers Meinung, dass der JFB eine Organisation sei, die
sich mit der Sozialarbeit für Juden befasste, ihn jedoch nicht als eine
religiöse Frauenvereinigung anerkannt. Diese Auffassung widersprach allerdings
auf das entschiedenste dem Selbstverständnis des JFB. Bertha Pappenheim führte
einmal aus: „Die Organisation Jüdischer Frauenbund war vom ersten Augenblick
der Konzeption der Idee nicht als ein einfacher Zusammenschluss von Vereinen
und Verbänden gedacht, sondern als eine Mission für die jüdische Frauenwelt, in
der jede Jüdin zum Bewusstsein ihres Pflichtenkreises und zu Vergeistigung
desselben kommen soll.“ Der JFB wandte sich auch gegen die Bestrebungen, eine
vereinigte Frauenbewegung zu gründen, die auf die konfessionellen Ausrichtungen
verzichtete, da dies ihm die Grundlage seines Selbstverständnisses entzogen
hätte.
Für den
JFB muss angemerkt werden, dass er nicht nur religiös ausgerichtet, sondern
auch konservativer in der Vorstellung des anzustrebenden Gesellschaftsmodelles
als anderer Frauenorganisationen des BDF war. Er stand zwar auf den Boden der
bürgerlichen Frauenbewegung in Deutschland und teilte die wichtigsten ihrer
Charakteristika (wie z.B. die „soziale Mütterlichkeit“), seine primären
Zielsetzungen jedoch sah er nicht in der Interessenvertretung von berufstätigen
Frauen, sondern von Hausfrauen des Mittelstandes und der Gleichberechtigung der
Frau innerhalb des Judentums. Die sozialen Anliegen und die Bestrebungen, alle
Frauen eine adäquate Ausbildung zu ermöglichen, sollten darüber nicht
hinwegtäuschen. Für den JFB sollte die Frau vorwiegend Ehefrau und Mutter sein.
Dem JFB
ging es nicht um Selbstverwirklichung und finanzielle Unabhängigkeit der
Frauen, sondern nur um das Eintreten für die Herbeiführung des gewünschten
Soll-Zustandes und dieser ist in der Hausfrauen- und Mutterrolle der Frau zu
sehen. Damit war er zweifelsfrei in einigen Themen konservativer als die
nicht-konfessionellen Frauenorganisationen. Anzumerken ist, dass dies für die
anderen konfessionellen Frauenorganisationen auch galt. Die Schwierigkeiten,
mit denen der JFB zu kämpfen hatte, war nicht zu sehr aus dem Grundverständnis
erklärbar, sondern vielmehr aus der allgemeinen geringen Akzeptanz seiner
Tätigkeit auch innerhalb des BDF zu bemerken war. Dabei war der JFB alles
andere als erfolglos. Marion A. Kaplan verweist in ihrem Buch "Frau,
Familie und Identität im Kaiserreich" auf die regen Zuspruch, den der JFB,
trotz des Widerstandes innerhalb der Gesellschaft und der jüdischen Gemeinde
gegen Frauenrechte, zu verzeichnen hatte. Trotz der Angriffe, "wuchs seine
Mitgliedszahl ständig an, so dass er nach den ersten zehn Jahren seines
Bestehens 35.000 Mitglieder zählte. Im Jahre 1929 existierten 430
angeschlossene Vereine, 34 Ortsgruppen sowie zehn Landes- und
Provinzialverbände, und die Mitgliederzahl betrug insgesamt 50.000."
Der
Kampf gegen den Mädchenhandel und gegen die Prostitution
Neben
ihrem Engagement für die Rechte der jüdischen Frauen und den sozialen
Projekten wurde der Kampf gegen den
internationalen Mädchenhandel für Bertha Pappenheim zu einem weiteren Fixpunkt
in ihrem Leben. Die Diskussion über Prostitution und Mädchenhandel wurde am
Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhundert intensiv geführt. Das ist u.a.
darauf zurückzuführen, dass der professionelle Mädchenhandel ein neues Phänomen
war. Neben dem tatsächlichen Umfang des Problems, kam es jedoch zeitweise zu
einer wahren Hysterie darüber, und Edward J. Bristow bemerkte zurecht, dass das
Gespenst der Mädchenhändler in der Zeit der beginnenden Frauenemanzipation nur
allzu gerne von Eltern eingesetzt wurde, um die weibliche Hilflosigkeit zu
untermauern und „Ausbruchsversuchen“ ihre erwachsenen Töchter vorzubereiten.
Gleichzeitig muss man sich jedoch bewusst sein, dass der Mädchenhandel, dem man
heute als Menschenhandel bezeichnet, damals wie heute, ein lukratives Geschäftsmodell
darstellte. Die Rahmenbedingungen wurden Ende des 19. Jahrhunderts vor allem,
wie Helga Heubach hinwies, auch durch die verbesserten Infrastrukturen der
osteuropäischen Länder aber auch der Industrialisierung und die
Migrationsbewegungen aus diesen Ländern entwickelte, geschaffen. Durch die
Mischung aus Sexismus und Rassismus, die noch heute für den Menschenhandeln und
die Zwangsprostitution prägend ist, wurden vor allem junge, aus armen
Verhältnissen stammende Jüdinnen Opfer der Menschenhändler. Das Ausmaß war so
besorgniserregend, dass zum Schutz alleinreisender Frauen, „die österreichische
Regierung die Passvorschriften für Frauen nach der Türkei und Rumänien, den
beiden Exportzentren“ änderte. Die jungen Frauen wurden „risikolos und
gewinnreich an Bordelle des Orients, der Levante Länder, Südamerikas,
hauptsächlich Buenos Aires und Rio de Janeiro, aber auch Westeuropas verkauft.“
Helga Heubach beschreibt das Ausmaß, nur auf Buenos Aires bezogen, auf der
Grundlage der diesbezüglichen Polizeiangaben: „Von den 42 unter Polizeiaufsicht
stehenden Bordellen in Buenos Aires mit ca. 4000 kasernierten Prostituierten
werden drei von österreichischen Staatsangehörigen geführt. Als Nachschub
werden jährlich ca. 10.000 Mädchen benötigt, 90% von ihnen sind Jüdinnen aus
Osteuropa.“(Heubach)
Bertha
Pappenheims Anstrengung bedeuteten, einen Versuch der Hilfestellung für junge
Frauen zu unternehmen, die in die Prostitution abgerutscht waren. Die andere
Seite ihre Tätigkeit war der Kampf gegen die jüdischen Mädchenhändler und
Kupplerinnen. Für sie war die jüdische Beteiligung am Mädchenhandel ein
Angriffspunkt für die Antisemiten gegen das Judentum per se, die diese Tatsache
nur allzu gerne aufgriffen und für ihre Zwecke missbraucht. („Der Stürmer“
missbrauchte im Jahre 1935 u. a. ihre Arbeiten zur Bekämpfung des
Mädchenhandels als Beweis für seine antisemitische Hetze.) Die jüdische
Mitschuld war jedoch für Bertha Pappenheim, die den bürgerlichen
Moralvorstellungen zutiefst verbunden war, auch eine Schande für das gesamte
Judentum, dem es in gegenzusteuern galt.
Lange
Zeit wurde ihre Vorreiterrolle gerade in der Sozialarbeit auf dem Gebiet der
Resozialisierung schlicht nicht wahrgenommen. Im Bereich der Bekämpfung des
Mädchenhandels und der Prostitution ging sie Wege, die als Feldforschung zu
bezeichnen sind. Hinzukam, dass sie der grenzüberschreitenden Tätigkeit der
Mädchenhändler mit einer ebenso internationalen Recherche- und
Aufarbeitungstätigkeit begegnete. So verfasste sie nach einer mehrmonatigen
Reise nach Galizien die Publikation „Über die Lage der jüdischen Bevölkerung in
Galizien“, in der sie auf die Ursachen des Mädchenhandels und der Prostitution
einging. Auf einer Balkanreise im Jahre 1909 überreichte sie in Rumänien, der
damaligen Königin Elisabet, eine Petition zur Bekämpfung des Mädchenhandels.
Rumänien galt damals aufgrund der enormen Armut und des ausgeprägten
Antisemitismus im Land, neben Galizien, als eines der wichtigsten
„Exportländer“. Ihre Eindrücke und Erkenntnisse, die sie in ihren ausgedehnten
Reisen in den Jahren 1911 und 1912 erwarb, dokumentierte sie im Reisetagebuch
„Sisyphusarbeit“. Sie versuchte, nicht nur die ansässigen jüdischen
Frauenvereinigungen (waren diese nicht existent initiierte sie auch gerne deren
Gründung) für diese Themen zu sensibilisieren, sondern sich auch über das
Ausmaß der jüdischen Kupplertätigkeiten zu informieren. Dass sie dabei auch mit
Prostituierten in Kontakt trat und ihnen die menschliche Würde nicht absprach,
wurde ihr in psychoanalytisch ausgerichteten Arbeiten als „persönliche,
verdrängte Neigung zur Prostitution“ ausgelegt.
Pappenheim
sah die Prostitution vorwiegend als ein Netz sozialer Ursachen an, die mit
sozialen Maßnahmen zu bekämpfen wären. Im Jahre 1904 schrieb sie: „Ich möchte
darauf hinweisen, dass speziell in der Armen- und Waisenpflege ganz bestimmte
Fäden direkt zum Mädchenhandel hinführen.“ In ihrem Referat vor dem Kongress zur
Bekämpfung des Mädchenhandels in London 1910 führte sie u.a. aus: „Dass die
ökonomische Not einen großen Faktor in der Frage bildet, ist zweifellos. Mir
scheint die geistige Not und der Zerfall des Familienlebens noch größerer und
unendlich schwerwiegenderer. Aber ich habe noch andere Gründe beobachtet,
Erziehungssünden, verschrobene Anschauungen von Ehre und Schande, der Begriff
der Minderwertigkeit des weiblichen Geschlechts, ... Die Nichtachtung der
Menschenrechte der Frau, die in der doppelten Moral ihren Ausdruck findet,
lässt sie zu Ware herabsinken.“
Nach dem
Motto „Totschweigen kann eine Totsünde sein“ (Denkzettel vom 11. Mai 1924) war
sie nicht gewillt, Tabus anzuerkennen. Dass sie dabei nicht nur Beifall erhielt,
störte sie nicht sonderlich, vielmehr entwickelte sie eine wahre Liebe zu
Auseinandersetzungen mit z.B. besonders orthodoxen Rabbinern, die sie beinahe
europaweit austrug. Ihre Haltung entsprach ihrer Notiz: „Ich empfinde den
Verkehr mit Gegnern stärkender und fördernder als mit Gleichgesinnten“. Diese
Konfliktfreundlichkeit wurde ihr des öfteren als „Charakterfehler“ angekreidet
und es ist ihr häufig vorgeworfen worden, dass sie stur und autoritär wäre. Das
mochte stimmen und lag doch wohl gleichzeitig auch in den Vorstellungen über
weibliches Verhalten begründet.
Sie
selbst scheint jedoch weder die Auseinandersetzungen, noch sich selbst allzu
wichtig genommen zu haben. Berta Pappenheim verzieh den anderen Menschen und
auch sich selbst die menschlichen Schwächen. Dies wird in ihren selbst
verfassten Nachrufen deutlich. So schrieb sie für das „Familienblatt“: „Sie war
eine Frau, die jahrzehntelang eigensinnig für Ihre Ideen eingetreten ist,
Ideen, die in der Zeit lagen. Aber sie tat es oft in Formen und auf Wegen, die
eine Entwicklung vorgreifen wollten, so wie sie auch nicht jedermanns Sinn und
Geschmack waren. Schade!“
Für die „Blätter
des jüdischen Frauenbundes“ verfasste sie folgende Zeilen: „Sie gründete im
Jahre 1904 den Jüdischen Frauenbund, dessen Bedeutung längst nicht erfasst ist.
Die Weltjudenschaft - Männer wie Frauen - könnten ihr für diese soziale Tat
dankbar sein. Sie sind es nicht. Schade!“
Der Nationalsozialismus – ihre Fehleinschätzung
Bertha
Pappenheim war von ihrem Wesen und Selbstverständnis zutiefst der deutschen
Kultur verbunden. Dies hatte zur Folge, dass sie den Nationalsozialismus, den
tiefen, gewaltbereiten Antisemitismus und auch wohl die Unmenschlichkeit der
"Meute", die zentrales Element dieses rassistisch-antisemitischen
Terrorregimes war, unterschätzte. Für sie war es lange Zeit schlicht nicht
vorstellbar, dass Juden und Jüdinnen keinen Platz in dieser Gesellschaft mehr
haben sollten. Als sie die Dimension der Gefahr erkannte, schaffte sie noch,
einige ihrer Schützlinge aus den Heimen des Jüdischen Frauenbundes in
Sicherheit zu bringen. 1936 wurde die 75jährige von der Gestapo wegen
angeblicher regimekritischer Bemerkungen einer Heimbewohnerin vorgeladen und
verhört. Bertha Pappenheim war zu diesem Zeitpunkt bereits schwer erkrankt. Vom
Verhör erholte sie sich nicht mehr. Sie starb am 28. Mai 1936.